Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe
Bericht
Der diesjährige UN-Bericht zeichnet ein ernüchterndes Bild der Agenda 2030 und ihrer Umsetzung: Die sich gegenseitig verstärkenden multiplen Krisen (Armut und Ungleichheiten, COVID-19, Klimakrise, Kriege und Konflikte) wirken sich negativ auf die weltweite Ernährungssicherheit, Umwelt, den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie auf Frieden und Sicherheit aus. Die Vereinten Nationen richten drei zentrale Empfehlungen an UN-Mitgliedsstaaten, die dazu beitragen können, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) in den nächsten sieben Jahren noch zu erreichen.
Unter Verwendung der neuesten verfügbaren Daten und Schätzungen bietet der SDG-Bericht 2022 einen Realitätscheck über die verheerenden Auswirkungen multipler Krisen, die das Leben und die Lebensgrundlagen der Menschen beeinträchtigen. Weil immer noch erhebliche Datenlücken darüber bestehen, inwiefern Staaten dazu beitragen, die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) zu erreichen, ist es schwer, Fortschritte genau zu fassen.
Die COVID-19-Pandemie erreicht mittlerweile das dritte Jahr, hinzu kam dieses Jahr der Krieg gegen die Ukraine, welcher Nahrungsmittel-, Energie und humanitäre Krisen verschärft. Und das alles geschiet vor dem Hintergrund der Klimakrise sowie steigender Armut und Ungleichheiten. Um noch verheerendere Auswirkungen der Klimakrise zu vermeiden, ist es wesentlich, das die weltweiten Treibhausemissionen – wie im Pariser Klimaabkommen festgehalten – bis 2030 um 43% zurückgehen und bis 2050 auf netto null sinken. Tatsächlich drohen die weltweiten Treibhausgasemissionen aufgrund schwacher nationaler Klimaschutzmaßnahmen, zu denen sie sich Staaten freiwillig verpflichtet haben, bis 2030 um fast 14% anzusteigen.
Die COVID-19-Pandemie hat die stetigen Fortschritte bei der Armutsbekämpfung der letzten 25 Jahre zunichtegemacht. Durch die Pandemie ist die Zahl der Menschen in extremer Armut erstmals seit einer Generation wieder angestiegen. Die Inflation und die Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine haben unter anderem steigende Lebensmittelpreise zur Folge und verschlimmern dadurch den Trend zusätzlich. Der Bericht hält fest, dass die Zahl extrem armer Menschen aufgrund multipler Krisen auf über 650 Millionen Menschen gestiegen ist. Auch die Erwerbsarmutsquote ist weiter angestiegen. Die Zahl derjenigen, die in Armut leben, obwohl sie in einem Arbeitsverhältnis sind, ist auf acht Millionen Menschen gestiegen. Die beiden Regionen mit den höchsten Erwerbsarmutsquoten (Subsahara-Afrika und Ozeanien (ohne Australien und Neuseeland)) haben in den letzten zwei Jahren den stärksten Anstieg verzeichnet.
Aktuelle multiple Krisen, die von Konflikten und Kriegen über COVID-19-Pandemie und Klimakrise bis hin zu steigender Armut und Ungleichheiten reichen, untergraben die Ernährungssicherheit weltweit: So leidet aktuell einer von zehn Menschen an Hunger. Der besorgniserregendste Anstieg ist auch hier in Subsahara-Afrika zu beobachten, gefolgt von Zentral- und Südasien sowie Lateinamerika und der Karibik. 149,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden an Mangelernährung. Um die Unterentwicklung bei Kindern bis 2030 um 50% zu reduzieren, müsste sich die jährliche Rückgangsrate verdoppeln (von 2,1 auf 3,9% pro Jahr). Der Krieg gegen die Ukraine und die damit zusammenhängenden Krisen führen zu Nahrungsmittelengpässen für die ärmsten Menschen der Welt, denn die Ukraine und Russland sind große Exporteure wichtiger Nahrungs- und Düngemittel, Mineralien und Energie. Zusammen gelten sie als Kornkammern der Welt, vor dem Krieg produzierten sie 30% des Weizens, 20% des Mais sowie 80% des Sonnenblumensaatgutes auf der Welt.
Die COVID-19-Pandemie bedroht weiterhin jahrzehntelange Fortschritte der globalen Gesundheit. Bis Mitte 2020 waren weltweit bereits mehr als 500 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert und 15 Millionen Menschen starben bis Ende 2021. Es starben allein 115.500 Angestellte im Gesundheitswesen. Die Pandemie hat dazu geführt, dass wichtige Gesundheitsdienste weltweit unterbrochen (in 92% der Länder) und Fortschritte bei der Bekämpfung gegen HIV, Tuberkulose und Malaria zunichte gemacht wurden. Zum ersten Mal seit 2005 ist die Zahl der Tuberkulose-Todesfälle wieder gestiegen (von 1,2 Millionen im Jahr 2019 auf 1,3 Millionen im Folgejahr). Eine Folge der Pandemie ist auch die steigende Zahl von Menschen, die an Angstzuständen sowie Depressionen erkrankten. Die weltweite Lebenserwartung ist insgesamt gesunken.
Die COVID-19-Pandemie hat die globale Bildungsungleichheit weiter verschärft: 147 Millionen Kinder verpassten zwischen 2020 und 2021 mehr als die Hälfte ihres Unterrichts. 24 Millionen Lernende (von der Vorschule bis zur Universität) werden möglicherweise nie wieder zur Schule gehen. Tief verwurzelte Ungleichheiten im Bildungswesen haben sich während der Pandemie noch verschlimmert und längere Schulschließungen haben das Risiko erhöht, dass 24 Millionen Lernende (von der Vorschule bis zur Universität) nicht mehr in ihre Bildungseinrichtung zurückkehren. Die psychosoziale Unterstützung für Schüler*innen wird häufig komplett vernachlässigt.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen gibt es in jedem Land der Welt und trifft diese in allen Altersstufen: Weltweit ist mehr als jede vierte Frau (das sind 641 Millionen) mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt in der Partnerschaft geworden. Es gibt keine Daten über nicht-binäre, queere Geschlechtsidentitäten. Frauen sind immer noch selten in Führungspositionen vertreten, sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Anfang 2022 liegt bspw. der Anteil von Frauen in nationalen Parlamenten bei 26,2% gegenüber 22,4% im Jahr 2015. Bei diesem Tempo dauert es weitere 40 Jahre, bis Frauen und Männer in nationalen Parlamenten gleich stark vertreten sind. In vielen Ländern der Welt können Frauen immer noch nicht über ihren eigenen Körper entscheiden. Lediglich 57% der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren können selbstbestimmte Entscheidungen im Bezug auf sexuelle Beziehungen, Verwendung von Verhütungsmitteln und reproduktive Gesundheit treffen. Generell ist zu beobachten, dass die Welt nicht auf dem Weg ist, die Gleichstellung der Geschlechter bis 2030 zu erreichen. Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie haben die Situation noch weiter verschlechtert.
Gewässerbezogene Ökosysteme werden weiterhin in einem alarmierenden Tempo geschädigt. In den letzten 300 Jahren sind über 85% der weltweiten Feuchtgebiete verloren gegangen. Über 733 Millionen Menschen, das sind 10% der Weltbevölkerung, leben in Ländern mit hohen oder kritischem Wasserstress. Wasserstress ist eine Messgröße für Wasserknappheit und erfasst in welchem Ausmaß ein Land seine jährlich verfügbaren und erneuerbaren Wasservorkommen nutzt. Tendenziell gilt, dass Konflikte und Umweltschäden umso wahrscheinlicher auftreten, je höher der Anteil des genutzten Wasservorkommens ist.
Die bisherigen, schnellen Fortschritte bei der Elektrifizierung verlangsamen sich, weil es immer schwieriger wird, abgelegene Gebiete zu erreichen. Um globale Klimaziele zu erreichen, müssen die Fortschritte bei der Energieeffizienz beschleunigt werden. Internationale Finanzströme in Länder mit niedrigem Einkommen für erneuerbare Energien sind das zweite Jahr in Folge zurückgegangen.
Die Erholung der Weltwirtschaft wird durch multiple Krisen behindert, etwa durch den Krieg in der Ukraine, neue Wellen der COVID-19-Pandemie, steigende Inflation, unterbrochene Versorgungsketten, politische Unsicherheiten und Herausforderungen auf Arbeitsmärkten. Eines von zehn Kindern ist weltweit von Kinderarbeit betroffen; das entspricht 60 Millionen Kindern insgesamt (Stand: 2020). Kinderarbeit verstößt gegen Menschenrechte und ist darüber hinaus gesundheits- und sicherheitsgefährend. Zusätzliche wirtschaftliche Schocks und Schulschließungen wegen der COVID-19-Pandemie hatten noch längere Arbeitszeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen zur Folge. Schätzungen zufolge könnten bis Ende 2022 weitere 9 Millionen Kinder in Kinderarbeit gedrängt werden.
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig technologische Innovation und widerstandsfähige Infrastruktur für den Wiederaufbau und die Verwirklichung der SDGs sind. Volkswirtschaften mit einem diversifizierten Industriesektor und einer starken Infrastruktur (z.B. Verkehr, Internetanbindung und Versorgungsdienste) erlitten weniger Schäden und erholen sich schneller. In den ärmsten Ländern der Welt (Least Developed Countries, LDC) verlief die Erholung schleppender. Industrien mit höherem Technologieniveau sind in Krisen weitaus widerstandsfähiger als ihre Pendants mit geringerem Technologieniveau. Industriezweige wie die Textil- oder Bekleidungs- oder die Kohleindustrie sind bislang unter dem Niveau vor der Pandemie zurück geblieben.
Einkommensungleichheiten sind aufgrund der Pandemie erstmals seit einer Generation länderübergreifend wieder angestiegen. Für Menschen auf der Flucht war das Jahr 2021 das tödlichste Jahr seit 2017: Mindestens 5.895 Menschen verloren 2021 ihr Leben auf der Flucht. Nicht nur der Krieg in der Ukraine trägt zur bereits hohen Zahl Schutzsuchender bei: Auch die Auswirkungen der Pandemie zwangen viele Menschen dazu, auf der Suche nach Sicherheit oder menschenwürdiger Arbeit ihre Heimat zu verlassen. Diskriminierung ist nach wie vor ein globales Problem: In etwa jeder fünfte Mensch erlebt Diskriminierung, das zeigen Daten aus 49 Ländern. In den Ländern, in denen entsprechende Daten verfügbar sind, erleben Frauen doppelt so häufig Diskriminierung wie Männer. Ein Drittel aller Menschen mit Behinderungen berichten, dass sie Diskriminierung erfahren haben.
„We must rise higher to rescue the Sustainable Development Goals – and stay true to our promise of a world of peace, dignity and prosperity on a healthy planet.“ António Guterres, Secretary-General of the United Nations
„We must rise higher to rescue the Sustainable Development Goals – and stay true to our promise of a world of peace, dignity and prosperity on a healthy planet.“
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Bis 2050 werden schätzungsweise sieben von zehn Menschen in städtischen Gebieten leben. Während Städte einerseits Motoren des Wirtschaftswachstums sind und zu 80% des globalen BIP beitragen, sind sie gleichzeitig auch für mehr als 70% der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Mittlerweile leben eine Milliarde Menschen auf der Welt in sogenannten „Slums“, also in überfüllten, ärmlichen oder informellen Unterkünften ohne angemessenem Zugang zu Trinkwasser, sanitären Einrichtungen sowie Verfügungsgewalt über Grund und Boden. Die Region mit dem höchsten Prozentsatz an Slumbewohner*innen ist Subsahara-Afrika, hier leben mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Um das der Agenda zugrundeliegende Prinzip Leave no one behind zu erreichen, muss der Fokus verstärkt auf Slumbewohner*innen gelenkt werden.
Nicht-nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sind auch eine der Hauptursachen multipler Krisen. Die Klimakrise, der Verlust der Biodiversität sowie Umweltverschmutzung bedrohen das menschliche Wohlergehen und das Erreichen der SDGs. Wenn der vorherrschende, nicht nachhaltige Entwicklungspfad beibehalten wird, wird die Kapazität der Erde nicht ausreichen, um die Lebensgrundlagen heutiger und künftiger Generationen zu sichern. Beispielsweise gehen weltweit zu viele Lebensmittel verloren oder werden verschwendet. Lebensmittelverschwendung hat erhebliche ökologische, soziale und wirtschaftliche Folgen. Weggeschmissene Lebensmittel verursachen 8 – 10% der weltweiten Treibhausgasemissionen. In den Ländern Subsahara-Afrikas ist die Ernährungsunsicherheit am größten, aber gleichzeitig auch der Anteil der Lebensmittelverschwendung.
Der Bericht verdeutlicht, dass die Erde am Rande einer Klimakatastrophe steht und die Zeitfenster, um sie abzuwenden, sich immer schneller schließen. Der globale Temperaturanstieg hält unvermindert an und führt zu immer mehr Wetterextremen. Zunehmende Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen beeinträchtigen Menschen auf der ganzen Welt und verursachen potenziell irreversible Veränderungen in globalen Ökosystemen.
Die energiebedingten CO2-Emissionen stiegen 2021 um 6% und damit auf den höchsten Stand aller Zeiten. Die Klimafinanzierung bleibt hinter den zugesagten 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr zurück. Im Jahr 2019 stellten die Industrieländer stattdessen lediglich 79,6 Milliarden US-Dollar für die Klimafinanzierung für Länder des Globalen Südens zur Verfügung.
„The scientific evidence is unequivocal: climate change is a threat to human well-being and the health of the planet. Any further delay in concerted global action will miss a brief and rapidly closing window to secure a livable future.“ IPCC-Report 2022 (Intergovernmental Panel on Climate Change)
„The scientific evidence is unequivocal: climate change is a threat to human well-being and the health of the planet. Any further delay in concerted global action will miss a brief and rapidly closing window to secure a livable future.“
Das größte Ökosystem der Erde, der Ozean, ist stark gefährdet. Die zunehmende Versauerung bedroht das Leben im Meer und schränkt die Fähigkeit des Ozeans ein, die Klimakrise abzumildern. Der Ozean absorbiert etwa ein Viertel der weltweiten jährlichen CO₂-Emissionen. Plastikverschmutzung ist ein globales Problem: mehr als 17 Millionen Tonnen Plastik gelangten 2021 ins Meer. Prognosen zufolge wird sich die Menge bis 2040 verdoppeln oder verdreifachen, wenn keine Maßnahmen dagegen unternommen werden.
Gesunde Ökosysteme und die von ihnen getragene biologische Vielfalt sind eine Quelle für Nahrung, Wasser, Medizin, Unterkunft und andere materielle Güter. Menschliche Aktivitäten haben jedoch tiefgreifende Folgen: So werden jedes Jahr 10 Millionen Hektar Wald zerstört, das ist eine Fläche so groß wie Island. Fast 90% der weltweiten Entwaldung ist auf die Ausweitung der Landwirtschaft zurückzuführen. Weiterhin sind rund 40.000 Arten nachweislich in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht.
Seit 1946 erlebt die Welt die größte Anzahl an gewaltsamen Konflikten. Damit lebt ein Viertel der Weltbevölkerung in konfliktbetroffenen Regionen. Im Mai 2022 galten 100 Millionen Menschen weltweit als gewaltsam vertrieben. Bewaffnete Konflikte zu beenden, Institutionen zu stärken und Menschenrechte einzuhalten sind notwendige Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung.
Die öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen haben im letzten Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Dies ist vor allem auf COVID-19 bezogene Hilfe zurückzuführen. Die vorläufigen Zahlen des Jahres 2021 lauten:
Viele Länder des Globalen Südens erholen sich nur mit viel Mühe von der Pandemie. Sie haben mit Inflation, hohen Zinssätzen und einer steigenden Schuldenlast zu kämpfen.
United Nations Department of Economic and Social Affairs and Social Inclusion (2022): The Sustainable Development Goals Report 2022
(pk)