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Julia Schöneberg-Universität Kassel

Zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit brauchen wir einen grundlegenden Wandel, der strukturelle Problematiken und historisch bedingte Ursachen globaler Ungleichheit in den Blick nimmt. Eine Neudefinition oder Erweiterung des Begriffs „Entwicklung“ greift in jedem Fall zu kurz.

Entwicklung für alle?

Im September 2015 wurde die UN “Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung” von den Regierungen aller UN Mitgliedsstaaten verabschiedet. Kernstück sind die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung (die Sustainable Development Goals – SDGs). In der Nachfolge, aber auch in reflektierter Abgrenzung zu den Millennium Development Goals (MDGs), proklamiert die Agenda 2030, dass die SDGs grundsätzlich als global und universell zu verstehen seien. Entwicklung ist damit nicht länger nur Sache der sogenannten “Entwicklungsländer.” Im Rahmen einer “common, but differentiated responsibility” sind alle Staaten grundsätzlich als Entwicklungsländer anzusehen und sollen in ihrem jeweils spezifischen Kontext zur Erreichung der Ziele beitragen.

Diese Konzeptionierung setzt allerdings eine zentrale Grundannahme als zutreffend voraus: “Entwicklung” als Konzept und Praxis ist legitim und effektiv, um globale Armut zu beseitigen.

Was ist Entwicklung?

Eine einzige, klare Definition von “Entwicklung” gibt es nicht, der Begriff wurde immer wieder neu definiert und interpretiert. Hauptsächlich wurde “Entwicklung” jahrzehntelang als Wachstums- und Fortschrittsparadigma propagiert. Das Wachstum der Wirtschaft war (oder ist) das Hauptziel. Der Lebensstandard des Westens galt und gilt als Maßstab für den Grad der “Entwicklung.”

Nachhaltige Entwicklung als Lösung?

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: es ist klar, dass Nachhaltigkeit zentral für unser Leben und Handeln sein muss. Vorausgesetzt ist allerdings, dass Nachhaltigkeit bedeutet, dass einige Wenige nicht auf Kosten Vieler leben dürfen. Ohne Wenn und Aber muss ein gutes Leben für alle, auch die nicht-menschliche Erdpopulation garantiert sein.
Die Kombination von Nachhaltigkeit und Entwicklung ist in ihrer Konsequenz aber fehlleitend, weil es das etablierte Wachstumsparadigma nicht in Frage stellt, sondern ihr bloß einen sozial-ökologischen Anstrich gibt. Nimmt man die Nachhaltigkeitsziele (vor allem Ziele 6 und 12 bis 15) ernst, kann das in Ziel 8 formulierte Wachstumsziel schlicht nicht erreicht werden. Dennoch fokussiert sich westliche Entwicklungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik nach wie vor auf wirtschaftlichen Erfolg.

Ein gutes Leben für Alle

Der Prozess für die Nachfolgeagenda Post-2030 wird bald starten und es muss ein globales Umdenken geben. Es ist grundsätzlich unmöglich über Lösungen für Fragen globaler Ungleichheit zu sprechen, ohne anzuerkennen, dass die Gegenwart unausweichliches Produkt der Vergangenheit ist. Post- und dekoloniale Entwicklungskritiker*innen haben deutlich gemacht, dass globale Ungleichheit ein Produkt aus Kapitalismus und Kolonialität ist. Das bedeutet konkret, dass Lösungsansätze systemischer und struktureller Art sein müssen. Strukturelle Ungleichheiten in den Fokus zu nehmen, setzt zum einen eine Ent-Entwicklung, eine “Abwicklung” des globalen Nordens voraus. Zum anderen aber auch eine Reihe von Maßnahmen, die koloniale Kontinuitäten und Nord-Süd Machtasymmetrien aufbrechen. Konkrete machtkritische Ansatzpunkte wie unter anderem von Hickel vorgeschlagen wären etwa

  • Schuldenerlass für hochverschuldete Länder, Reparation und Restitution
  • Eine fairere globale Ökonomie durch demokratische Stimmrechte in den mächtigen Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem internationalen Währungsfonds
  • Die Regulierung von Agrarpatenten und -subventionen, der Schutz von Saatgut, Schutz vor Landraub, sowie Fair Trade
  • Globale Steuergerechtigkeit
  • Faire Arbeitslöhne, für alle

Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Gemein haben alle diese Ansatzpunkte, dass sie verdeutlichen wie vielschichtig globale und soziale Ungleichheiten auf vielen Ebenen vorhanden und miteinander verknüpft sind.

Als Konsequenz müssen grundlegende strukturelle Veränderungen auf politischer Ebene verhandelt und verabschiedet werden, eine Neudefinition oder eine halbherzige Erweiterung von “Entwicklung” wird nicht reichen.

Das zentrale Thema unserer Zeit wird sein, wie wir der Klimakrise begegnen und diese lösen. Wie in einem Brennglas fokussieren sich hier Fragen von Migration, Armut, Hunger, Konflikten, Ressourcenverteilung und -schutz und Ökologie. Letztendlich sind alle diese weniger Fragen von “Entwicklung”, sondern von Gerechtigkeit.

Zur Autorin

Dr. Julia Schöneberg ist Wissenschaftlerin an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind praktische Ansätze des Postdevelopment sowie dekoloniale Perspektiven auf Wissensproduktion und Pädagogik. Sie ist Mitgründerin von www.convivialthinking.org, einer virtuellen Plattform mit dem Ziel Grenzen von Herkunft, Ethnie, Gender, Hierarchie und wissenschaftlichen disziplinären Schubladen zu überwinden um Räume für inklusive, interdisziplinäre und alternative Ansätze, besonders im Kontext von „Entwicklung“, zu schaffen.

In der Rubrik „Kommentar der Anderen“ bietet die AG Globale Verantwortung ExpertInnen die Möglichkeit, aktuelle und relevante entwicklungspolitische Themen zu kommentieren sowie ihre Meinung zu präsentieren. Das Ziel ist, Debatten über Entwicklungspolitik zu ermöglichen, den demokratischen Diskurs zu fördern und die Bedeutung der Umsetzung der Agenda 2030 hervorzuheben. Die inhaltliche Verantwortung für den Text liegt ausschließlich bei den Autoren. Die AG Globale Verantwortung teilt nicht notwendigerweise die vorgetragenen Ansichten.